Die Angst des Schreibers vor dem Fremdwort

Ich weiß, sehr verehrte gebildete Leserin, hochverehrter gebildeter Leser: Lesen Sie einen Satz, der mit „Nach rezenten Beobachtungen …“ beginnt, ist Ihnen sofort klar, was gemeint ist. Denn selbstverständlich ist ihnen die Ableitung des Fremdwortes „rezent“ vom lateinischen „recens“ geläufig. Und daher die Bedeutung „jüngst“ ebenso.

Ich aber frage mich jetzt: Warum hat der Texter – ja, es handelt sich um ein echtes Beispiel aus einer Onlinestory eines bekannten Printmediums – nicht einfach geschrieben: „Nach jüngsten Beobachtungen …“

Wollte er mit seiner humanistischen Bildung prahlen? Wollte er, dass sein Text von der durchschnittlichen Leserschaft nicht verstanden wird? Wollte er vielleicht deren Bildungsgrad heben, indem er sie zum Nachgoogeln zwang? In jedem Fall: keine glückliche Entscheidung.

Wirklich gute Schreiber versuchen, allzu unbekannte Fremdworte zu umschiffen, wenn es irgendwie möglich ist. Weil die nämlich kleine Stolperfallen für unser Gehirn darstellen und unserem Unterbewusstsein, das mitunter ein richtig ein fauler Hund sein kann, eine Ausstiegshilfe liefern. Nach dem Motto: Bevor ich nachdenken muss, hör ich lieber auf zu lesen.

Wer gute Informationstexte schreibt, weiß das. Wer noch bessere Informationstexte schreibt, stellt deshalb sein eigenes Ego hintan. Man muss nicht immer und mit jedem Satz demonstrieren, was man alles weiß und kann. Gute Texte müssen verstanden werden, sonst erreichen sie ihr Ziel nicht. Und um verstanden zu werden, müssen sie klar formuliert sein. Es gibt sogar eine eigene Faustregel dazu, an die sich professionelle Schreiber halten: Immer zumindest ein Niveau-Level unter jenem schreiben, über das die durchschnittliche Leserschaft mutmaßlich verfügt. Wer nicht für Sprachwissenschaftler oder Hochschulprofessoren schreibt – und wer tut das schon außer Sprachwissenschaftlern oder Hochschulprofessoren – sollte also auf selten verwendete Fremdworte wie „rezent“ verzichten. Das wird die eigenen Texte leichter verständlich und damit besser machen.

Wirklich gute Texter fürchten allzu fremde Fremdworte und meiden sie. Nicht, weil sie sie nicht kennen. Sondern weil sie verständliche Texte abliefern wollen. Genau das ist nämlich ihr Job – und nicht, vor einer Leserschaft möglichst super dazustehen.

Daher bitte ich Sie, sehr verehrte gebildete Leserin und hochverehrter gebildeter Leser: Formulieren Sie, wenn Sie schreiben, als schrieben Sie für durchschnittlich kundige Menschen. Vermeiden Sie vermeidbare Fremdworte. Sie wollen ja, dass das, was Sie schreiben, verstanden wird. Oder?